Der Seelenfütterer - Klaus Bendel

Glauben (er)leben

April 1945 - Frauenprotest in Ludwigsburg 

- Predigterzählung nach wahren Begebenheiten
- zu Daniel 9, 4+5 15-19 am Muttertag 2021

von Klaus Bendel


Liebe Gemeinde,

als Predigttext für diesen Sonntag steht ein Gebet von Schuld und Sünde.
Daniel, ja der aus der Löwengrube, dieser Daniel bringt die Schuld vor Gott.
Die Schuld seines Volkes und die Schuld jedes einzelnen, vor so langer Zeit.
Daniel lebte um 500 vor Christi Geburt.

Viele Höhen und Tiefen hat die Menschheit seither durchschritten.
Doch das Thema Schuld holt uns immer wieder ein.
So gedachten viele von uns gestern dem Ende des zweiten Weltkriegs und heute?
Heute ist wieder alles anders, denn heute ist Muttertag. So verschieden und doch passt all dies in ein Gebet. Ein weiter Bogen ….

Ein weiter Bogen, den auch meine heutige Geschichte zu überspannen sucht.
Eine Geschichte von Angst, Mut und Hoffnung.

  

Ein sonniger Frühlingstag des Jahres 1945 in Ludwigsburg.
Es ist Samstag und Anne macht sich früh auf den Weg an diesem 21. April.
Sie will Lebensmittelkarten ergattern, um sich mit dem nötigsten einzudecken.
Unterwegs begegnet sie anderen Frauen aus der Nachbarschaft. Sie alle wollen möglichst gut vorbereitetet sein, auf das was die Stadt heute erwartet.

Die Garnisonsstadt Ludwigsburg hatte den Krieg bislang verhältnismäßig gut überstanden.
Ein Hauptgrund dafür liegt wohl in dem Umstand begründet, dass zahlreiche Lazarette über das Stadtgebiet verteilt sind. Jedes einzelne für sich stellt eine besondere Schutzzone dar, die nicht beschossen werden darf.
Inwieweit dies sich jedoch auf das gesamte Stadtgebiet auswirken würde, ist noch völlig unklar in diesen letzten Tagen des April 1945.
Vorgestern, am Donnerstagabend des 19.April wurde für Ludwigsburg bei einer Bürgerversammlung vom NS-Kreisleiter noch der „Kampf bis zum letzten Mann“ propagiert. 
Einen Tag später, am Freitag, dem 20.April wurde dann vom OB verkündet, dass Ludwigsburg aus der Kampflinie herausgenommen worden sei.

Nun ist wieder eine Kriegsnacht vorüber.

Unsicherheit und Angst ist überall gegenwärtig.
Alle Erledigungen werden hektisch erledigt, um möglichst schnell wieder nachhause zu kommen.
 
Auf dem Rückweg von ihren Besorgungen hört Anne plötzlich eine bekannte Stimme.

„Guten Morgen Anne, heute ist es wohl so weit.“

„Franziska! Auch dir einen guten Morgen.
Ja ich weiß. der OB hat mitgeteilt, dass wir jetzt doch als Lazarettstadt gelten und es hier wohl keine Kämpfe mehr geben wird.
Unsere Soldaten sind abgezogen. Überall liegen Uniformen, Waffen und sonstiges Armeezeug in den Straßengräben.
Die Reste der Wehrmachtsvorräte wurden verteilt.
Heute wird es wohl zur Übergabe der Stadt an die Franzosen kommen, dann ist das Alles Gott sei Dank endlich vorbei!“

„Anne, was wird wohl nun aus uns, wenn die Franzosen hier einrücken? Immerhin hatten wir sie angegriffen und ihr Land besetzt. Werden sie jetzt nicht Rache an uns nehmen?“

„Du hast doch keine Schuld an dem Krieg. Das haben doch der Führer und seine Helfer entschieden.“

„Ich weiß nicht. Ich fühle mich mitschuldig. Zu oft habe ich weggeschaut. Zu oft habe ich geschwiegen – und nicht nur ich, wir alle haben das.“

„Du hast recht. ….
Aber besonders schweigsam warst du letzten Samstag nicht.
Da bist du doch mitmarschiert.“

Franziska kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, das war schon etwas. Hunderte von Frauen füllten die Straßen und marschierten protestierend zum Rathaus.“

„Ja und meine Franziska ganz vorne mit dabei!“

„Stimmt. Ich hätte mir das nie zugetraut, aber es war einfach die Zeit dafür.
Wie lange hätten wir noch zuschauen sollen bei diesem sinnlosen Töten?
Hatte das alles nicht schon genug unschuldige Opfer gefordert?
Unsere Abordnung ist zwar nicht zum OB vorgelassen worden, aber mit dieser Frauenprotestkundgebung in Ludwigsburg haben wir ein deutliches Zeichen gesetzt!
Du hättest sie mal hören müssen: „Wir Ehefrauen opferten unsere Männer, wir Mütter opferten unsere Kinder! Doch damit ist jetzt Schluss, wir haben genug davon. Übergebt die Stadt den Siegern und beendet das sinnlose Töten.“

„Aber Franziska, du weißt schon wie gefährlich das war? Ich habe gehört, dass 10 Frauen erschossen werden sollten. Nun waren die Franzosen schneller als gedacht und stehen kurz vor der Stadtgrenze. Stell dir nur vor, die NS-Kreisleitung wäre nicht schon abgezogen. „

„Es war trotzdem richtig, obwohl wir nicht wissen, wohin uns das nun führen wird. Am Sonntag nach unserer Demo habe ich an einem Gebetskreis teilgenommen. Da ging es auch um eine Schuld, die ein ganzes Volk auf sich geladen hatte. Nicht wirklich vergleichbar mit uns aber es zeigte sich, dass es nie zu spät ist seine Schuld zu bekennen und umzukehren; sich dem einzigen zuzuwenden, der wirklich retten kann .. “

Schon standen die beiden vor Franziskas Haus.
 „Kommst du noch kurz mit rein? Ich würde dir gerne zeigen, wovon ich eben gesprochen habe.“

„Gut, aber dann möchte ich weiter. Mir ist auf der Straße nicht wohl zumute.“


Franziska bewohnt den rechten Teil eines Hauses, das nur noch zur Hälfte steht. Eine Bombe hatte den linken Teil weggerissen. Ein Loch in der Mauer ist notdürftig mit Brettern vernagelt und mit Teppichen zugehängt, um die Kälte abzuhalten.
In der Küche setzen sich die Frauen an den Tisch. Franziska holt die verstaubte Bibel aus dem Küchenregal und schlägt sie auf.

„Die Geschichte steht im Buch Daniel. Sie spielt in der Zeit, als Jerusalem von den Babyloniern erobert und zerstört worden war. Daniel war einer der vielen jungen Männer, die aus Jerusalem entführt und nach Babylon gebracht worden waren.  
Er war klug und machte dort Karriere. Nach 70 Jahren im Exil, als er so um die 80 Jahre alt war, wurde Babylon seinerseits erobert und die Juden durften wieder nach Hause.

Daniel war klug, wie gesagt und sehr gläubig.
 So hatte er Angst, ob Gott seinem Volk tatsächlich verziehen hatte.
Er war ein wirklich gläubiger Mann, der dreimal täglich betete. Kurz bevor der Weg in die Heimat angetreten werden konnte, warf er sich vor Gott nieder und betete:

Daniel 9, 4+5 15-19

4 Ich betete aber zu dem HERRN, meinem Gott, und bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und schrecklicher Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! 5 Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen.

 

15 Und nun, Herr, unser Gott, der du dein Volk aus Ägyptenland geführt hast mit starker Hand und hast dir einen Namen gemacht, so wie es heute ist: Wir haben gesündigt, wir sind gottlos gewesen. 16 Ach, Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. 17 Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! 18 Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. 19 Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk ist nach deinem Namen genannt.

„Franziska, meinst du, dass wir deswegen all das erdulden und erleiden mussten? Haben wir uns an Gott selbst versündigt?“

„Liebe Anne,
ist es eine Sünde, Angst zu haben?
Ist es eine Sünde vor Angst eben nicht einzugreifen, wenn der Nachbar plötzlich verschleppt wird?
Ist es eine Sünde sich vor Angst zu verkriechen?
…. Ich habe keine Antwort darauf.

Nur zwei Dinge weiß ich sicher.
Zum einen, dass wir mit offenen Augen und Ohren durchs Leben hätten gehen müssen.
Hier zumindest, liegt ganz bestimmt unsere Sünde.
Wir haben den Anfängen nicht gewehrt.
Erst als sie so Viele in ihren Bann gezogen hatten und übermächtig geworden waren, haben wir das Unrecht bemerkt.
Doch dann kam die Angst, diese lähmende Angst und wie ein langsam doch unaufhaltsam steigendes Hochwasser, spülte diese braune Brühe uns alle in den Abgrund“

„Ich denke, du hast recht,“ entgegnet Anne „wir hätten viel früher genauer hinsehen und hinhören müssen. Das erkenne ich jetzt.
Und was ist das Zweite? Das Zweite, das du sicher weißt?“

Franziska beugt sich nach vorne und nimmt die Bibel. Sie nimmt sie flach in ihre linke Hand. Mit ihrer rechten Hand umfasst sie Annes Handgelenk und legt ihre Hand auf die Bibel.

Anne schaut ihre Freundin verwundert an und Franziska fährt fort:

„Was ich auch noch sicher weiß?
Hier steht es drin, hier in diesem alten unscheinbaren Buch, das wir viel zu lange nicht mehr beachtet haben.
Hier steht es drin! Gott ist barmherzig.
Womit auch immer wir uns in der Vergangenheit versündigt haben, es ist nie zu spät.
Es ist nie zu spät Gott sein Herz zu öffnen.
Es ist nie zu spät seinen eigenen Sünden zu erkennen und in Gottes Hände zu legen.
Es ist nie zu spät, den richtigen Weg einzuschlagen.
Das galt für Daniel damals genauso, wie es für uns heute gilt.

Wenn du wahre Vergebung suchst, findest du sie hier.
Du findest sie im Gebet zu Gott. Lass es uns gemeinsam tun.
Wir legen die Trümmer unseres Lebens vor ihm nieder.
All das was wir versäumten, obwohl wir handeln hätten sollen;
all das was wir verschwiegen, obwohl wir sprechen hätten sollen
und auch all die Blicke, die wir abgewandt hatten, obwohl wir hinschauen hätten sollen.

Und lass uns auch danken für den Mut.
Für den Mut aufzustehen. Aufzustehen mit all den Frauen,
den Ehefrauen, den Witwen,
den jungen Frauen, die noch ganz am Anfang stehen
und mit den Müttern, die so vieles ertragen mussten, die mit ständiger Angst um ihre Söhne auf das Ende dieses Krieges gehofft hatten. Nun haben sie mit dem Marsch zum Rathaus ein so großes Zeichen gesetzt. “

So sitzen die beiden Frauen ruhig am Küchentisch und bringen all die Last und das Leid, aber auch Freude und Dankbarkeit im Gebet vor Gott.

Als am anderen Ende der Stadt die französischen Truppen in die Stadt einrücken, sitzt Anne immer noch bei Franziska am Küchentisch.
Die Angst vor dem was da kommen wird, ist nicht verschwunden.

Doch sie ist verblasst, denn nun stehen sie nicht mehr alleine da.
Hoffnung erfüllt ihr Herz und auch ein wenig Freude,
Freude über den Mut, der Frauen aus Ludwigsburg.

Hoffnung, ja göttliche Zuversicht erfüllt ihr Herz als sie Gott mit Worten Daniels anrufen:
 Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig!
Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht

 

AMEN

Lied nach der Predigt



Wenn die Last der Welt dir     zu schaffen macht 618, 1